Quote erfüllt, Teilhabe verfehlt
Einfach erklärt: Worum es in diesem Artikel geht
In vielen Behörden heißt es: Wir sind inklusiv. Die Quote wird erfüllt. Es arbeiten Menschen mit Behinderungen im öffentlichen Dienst. Das ist gut. Aber eine Frage bleibt: Welche Aufgaben haben sie. Sitzen sie auch in Leitungen. Treffen sie Entscheidungen. Oder bleiben sie oft in Bereichen ohne Verantwortung.
Viele Hürden entstehen nicht durch einzelne Menschen. Sie entstehen durch Regeln, Abläufe und Zuständigkeiten. Wer Unterstützung braucht, muss sie oft immer wieder erklären. Technik wie Spracherkennung kann helfen, besonders bei Hörbehinderung. Doch häufig wird sie mit dem Wort „Datenschutz“ blockiert. Statt Lösungen zu suchen, wird abgewartet und an die nächste Abteilung weitergeschoben.
So wird Teilhabe zur Ausnahme. Dabei gibt es ein Recht auf passende Unterstützung, damit Arbeit gleich gut möglich ist. Nötig sind klare Regeln, feste Zuständigkeiten, schnelle Entscheidungen und mehr Transparenz über Aufstieg und Führung.
Wie Strukturen im öffentlichen Dienst Menschen mit Behinderungen kleinhalten, obwohl die Regeln etwas anderes sagen
1. Der staatliche Inklusionsmythos: Wenn Zählen wichtiger ist als Zutrauen
Im öffentlichen Dienst wird Inklusion häufig über Kennzahlen erzählt. Wie viele schwerbehinderte Beschäftigte sind gemeldet, wie hoch ist die Erfüllung der Beschäftigungspflicht, wie sauber läuft das Anzeigeverfahren. Das Problem ist nicht, dass Zahlen unwichtig wären. Das Problem ist, dass Zahlen als Ersatzhandlung funktionieren. Sie beantworten die falsche Frage.
Die Bundesagentur für Arbeit zeigt, dass schwerbehinderte Menschen in vielen Branchen arbeiten und nennt die öffentliche Verwaltung ausdrücklich als einen Bereich, in dem schwerbehinderte Menschen häufig beschäftigt sind. Statistik der Bundesagentur für Arbeit
Das sagt aber nichts darüber, ob diese Beschäftigung in Rollen mit Gestaltungsmacht stattfindet, oder ob sie strukturell auf Funktionen reduziert bleibt, die als risikoarm, austauschbar und „unpolitisch“ gelten.
Genau hier kippt die Logik. Inklusion wird als Personalstatistik verwaltet, während Macht, Verantwortung und Aufstieg als Leistungsfrage individualisiert werden. Das ist keine neutrale Praxis. Das ist ein Muster.
2. Institutionelle Diskriminierung: Nicht der Einzelfall, sondern der Ablauf
Wer Diskriminierung nur als böse Absicht einzelner Personen beschreibt, entlastet Organisationen. Viele Ausschlüsse entstehen nicht durch offene Feindseligkeit, sondern durch Routinen, Zuständigkeiten, Standardsätze und das, was in Behördenkulturen als „vernünftig“ gilt.
Eine empirische Studie im Auftrag der Antidiskriminierungsstelle des Bundes beschreibt Barrieren beim Zugang zum Arbeitsmarkt als Zusammenspiel aus Vorurteilen, Informationsdefiziten und verfahrensbedingten Hindernissen, einschließlich Arbeitsabläufen, die nicht auf Belange von Menschen mit Behinderungen ausgerichtet sind. Antidiskriminierungsstelle
Übertragen auf den öffentlichen Dienst heißt das: Nicht nur Menschen entscheiden, sondern Prozesse entscheiden. Wer nicht in die Prozessnorm passt, wird passend gemacht oder aussortiert.
3. Technik als Machtfrage: Wenn „Datenschutz“ zur Universalabwehr wird
Ein besonders aufschlussreiches Konfliktfeld ist der Einsatz technischer Unterstützung, etwa Spracherkennung, Live Transkription oder Mikrofontechnik bei Hörbehinderung. In der Praxis prallen hier zwei Welten aufeinander: Teilhabe als Arbeitsvoraussetzung gegen Datenschutz als Abwehrreflex.
Juristisch ist Datenschutz kein pauschales Stoppschild, sondern eine Gestaltungsaufgabe. Das zeigt ausgerechnet ein Fall vor dem Bundesarbeitsgericht sehr deutlich: Dort berief sich eine Arbeitgeberseite auf Datenschutzbedenken, das Gericht stellte aber klar, dass eine Datenverarbeitung bei gesetzlicher Pflicht möglich ist und dass es auf ein tragfähiges Konzept ankommt, nicht auf ein reflexhaftes Nein. Das Bundesarbeitsgericht
Das ist der Kern: Datenschutz verlangt Sorgfalt, nicht Verweigerung.
Gleichzeitig ist im deutschen Diskriminierungsschutz die Idee „angemessener Vorkehrungen“ zentral. Sie meint notwendige und geeignete Anpassungen im Einzelfall, solange keine unverhältnismäßige Belastung entsteht. Behinderte Menschen BfB
Ein Rechtsgutachten der Antidiskriminierungsstelle betont, dass angemessene Vorkehrungen als konkrete Handlungspflichten zu verstehen sind und im deutschen Recht konsequent verankert und umgesetzt werden müssen. Antidiskriminierungsstelle
Wenn Behörden technische Unterstützung mit einem pauschalen Hinweis auf Datenschutz blockieren, passiert oft Folgendes: Es wird nicht geprüft, welche Lösung datenschutzkonform möglich wäre, sondern ob die Person „auch ohne“ klarkommt. Das ist keine Neutralität. Das ist eine strukturelle Abwertung von Teilhabe als Sonderwunsch.
4. Karriere und Führung: Die unsichtbare Decke, über die niemand Bericht erstatten muss
Öffentliche Arbeitgeber können Inklusion melden, ohne Machtverteilung zu messen. Genau diese Messlücke schützt das System.
Eine empirische Auswertung auf Basis einer Beschäftigtenbefragung zeigt, dass Menschen mit Behinderungen in Führungsrollen unterrepräsentiert sind. In der Auswertung tragen 31 Prozent der Beschäftigten ohne Behinderungen Führungsverantwortung, bei Personen mit einem Grad der Behinderung von mindestens 50 sind es 23 Prozent. Institut der deutschen Wirtschaft (IW)
Das ist kein Beweis für Ursachen im öffentlichen Dienst allein, aber ein starkes Warnsignal: Wer Führung als reines Leistungsresultat verkauft, ignoriert systematische Hürden und die erwartbaren Folgen von Barrieren, Teilzeitzwang, Erschöpfung und strategischer Selbstbegrenzung, weil das System die Risiken bei den Betroffenen ablädt. Institut der deutschen Wirtschaft (IW)
Und hier liegt die scharfe Frage: Wenn die Quote stimmt, aber Führung nahezu unsichtbar bleibt, welche Art von Inklusion wird dann betrieben. Inklusion als Beschäftigung, nicht als Einfluss.
5. Vorbild Staat: Wenn der Hüter des Rechts selbst eine Schutzlücke ist
Der Staat beansprucht gern eine Vorbildrolle. In der Realität gibt es beim Diskriminierungsschutz gegen staatliches Handeln eine gut dokumentierte Lücke.
Ein Rechtsgutachten und eine dazugehörige Veröffentlichung der Antidiskriminierungsstelle zeigen: Das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz greift bei hoheitlichem Handeln vielfach nicht. Betroffene haben damit oft weniger rechtliche Möglichkeiten, wenn die Diskriminierung von Behörden ausgeht, als wenn sie von privaten Akteuren ausgeht. Antidiskriminierungsstelle+1
Gleichzeitig zeigen aktuelle Zahlen der Antidiskriminierungsstelle, dass ein erheblicher Anteil der Beratungsfälle Diskriminierung durch staatliche Stellen betrifft und dass diese Anfragen seit 2020 stark gestiegen sind. Antidiskriminierungsstelle+1
Eine Bevölkerungsbefragung der Antidiskriminierungsstelle dokumentiert zudem, dass Diskriminierung durch staatliche Stellen für einen relevanten Teil der Bevölkerung eine reale Erfahrung ist. Antidiskriminierungsstelle
Das ist die zugespitzte Pointe, die weh tut, aber analytisch sauber ist: Der Staat fordert von Organisationen Vielfalt, Fairness und Rechtskonformität, während er für seine eigene Verwaltungspraxis rechtlich und institutionell Schutzlücken akzeptiert.
6. Fallvignette aus der Praxis: Technische Hilfe, formales Nein
Eine Fachkraft mit Hörbehinderung arbeitet in einer Behörde mit vielen spontanen Gesprächen, hoher Taktung, wechselnden Sprecherinnen und Sprechern und häufigen Abstimmungen. Zur Sicherung gleichberechtigter Kommunikation wird Spracherkennung und Mikrofontechnik eingesetzt. Die Lösung ist technisch etabliert und organisatorisch handhabbar.
Die Reaktion: „Datenschutz“. Keine Prüfung konkreter Optionen, keine Risikoanalyse, keine abgestufte Lösung, keine alternative Infrastruktur. Stattdessen die implizite Erwartung, dass die betroffene Person ihre Arbeitsfähigkeit ohne diese Unterstützung „irgendwie“ herzustellen hat.
Der Effekt ist vorhersehbar: weniger Beteiligung in Besprechungen, Rückzug aus konfliktträchtigen Situationen, Vermeidung sichtbarer Verantwortung und am Ende ein Karriereverlauf, der nach außen wie „freiwillige“ Selbstbegrenzung aussieht.
Diese Vignette ist kein statistischer Beleg. Sie zeigt die typische Logik einer Struktur: Teilhabe wird verhandelt, Leistungsfähigkeit wird vorausgesetzt.
7. Was sich strukturell ändern müsste: Von der Ausnahme zur Standardpflicht
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Verbindlicher Prozess für angemessene Vorkehrungen
Nicht Einzelfall Kulanz, sondern ein Standardablauf mit Fristen, Zuständigkeiten und dokumentierter Prüfung, orientiert am Konzept angemessener Vorkehrungen. Behinderte Menschen BfB+1 -
Datenschutz als Technikdesign, nicht als Abwehrsatz
Datenschutzkonforme Lösungen sind fast immer gestaltbar. Der Maßstab ist Konzeptqualität, nicht Bauchgefühl. Das Bundesarbeitsgericht -
Messung von Teilhabe an Verantwortung
Nicht nur Beschäftigungszahlen berichten, sondern Funktionsgruppen, Projektleitungen, Fallverantwortung, Führungsanteile und Entwicklungspfade, freiwillig oder per Berichtspflicht. -
Führung als inklusiver Organisationsauftrag
Wenn eine Gruppe systematisch seltener in Führung ankommt, ist das ein Organisationssignal, kein Individualversagen. Institut der deutschen Wirtschaft (IW) -
Vorbild Staat ernst nehmen
Wenn staatliches Handeln Schutzlücken hat, ist das kein Randthema, sondern eine demokratische Zumutung. Antidiskriminierungsstelle+2Antidiskriminierungsstelle+2
Dieser Text behauptet nicht, dass jede Behörde diskriminiert. Er beschreibt ein strukturelles Risiko: Wenn Inklusion vor allem über Quotenzahlen gesteuert wird, wenn angemessene Vorkehrungen als Sonderfall verhandelt werden und wenn beispielhaft Datenschutz pauschal als Ablehnung genutzt wird, dann entstehen systematische Ausschlüsse auch ohne böse Absicht.
Gerade weil der Staat Vorbild sein soll, braucht es hier mehr Transparenz, bessere Verfahren und eine Messung, die nicht bei Kopfzahlen endet.
Quellenverzeichnis mit Datum und Zuordnung zum Text
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Bundesagentur für Arbeit, Statistik Arbeitsmarktberichterstattung
Titel: Arbeitsmarktsituation schwerbehinderter Menschen 2024, Blickpunkt Arbeitsmarkt
Veröffentlichung: April 2025 Statistik der Bundesagentur für Arbeit
Verwendet in: Abschnitt 1 -
Antidiskriminierungsstelle des Bundes
Titel: Zugang zum allgemeinen Arbeitsmarkt für Menschen mit Behinderungen, Projektbeschreibung und Ergebnisse
Erscheinungsjahr: 2013 Antidiskriminierungsstelle
Verwendet in: Abschnitt 2 -
Fulda, Carolin und Stettes, Oliver, Institut der deutschen Wirtschaft
Titel: Welche Faktoren beeinflussen die Karriereambitionen von Menschen mit Behinderungen, IW Report Nr. 25
Datum: 10. Mai 2024 Institut der deutschen Wirtschaft (IW)
Verwendet in: Abschnitt 4 und 7 -
Antidiskriminierungsstelle des Bundes, Rechtsgutachten
Titel: Angemessene Vorkehrungen als Diskriminierungsdimension im Recht
Datum: im Dokument ausgewiesen, abrufbar als ADS Rechtsgutachten Antidiskriminierungsstelle
Verwendet in: Abschnitt 3 und 7 -
Schlichtungsstelle BGG
Titel: Hintergrund und Definition angemessener Vorkehrungen
Datum: 31. August 2021 Behinderte Menschen BfB
Verwendet in: Abschnitt 3 und 7 -
Bundesarbeitsgericht
Titel: Entscheidung 1 ABR 14/22, u a Datenschutzargumente und Pflichten nach SGB IX
Datum: auf der Entscheidungsseite ausgewiesen Das Bundesarbeitsgericht
Verwendet in: Abschnitt 3 und 7 -
Antidiskriminierungsstelle des Bundes, Veröffentlichung
Titel: Was, wenn der Staat diskriminiert, Zusammenfassung Befunde und Reformansätze
Stand: März 2025 Antidiskriminierungsstelle
Verwendet in: Abschnitt 5 und 7 -
Antidiskriminierungsstelle des Bundes, Rechtsgutachten
Titel: Staatliche Diskriminierung, Ausweitung des rechtlichen Diskriminierungsschutzes auf hoheitliches Handeln
Datum: im Dokument ausgewiesen Antidiskriminierungsstelle
Verwendet in: Abschnitt 5 und 7 -
Antidiskriminierungsstelle des Bundes, Pressemitteilung
Titel: Jede fünfte befragte Person sieht sich durch Ämter und Behörden diskriminiert
Datum: 1. Juli 2025 Antidiskriminierungsstelle
Verwendet in: Abschnitt 5 -
Antidiskriminierungsstelle des Bundes, Studie
Titel: Diskriminierung durch den Staat, Bevölkerungsbefragung zu Diskriminierung durch staatliche Stellen
Stand: März 2025 Antidiskriminierungsstelle
Verwendet in: Abschnitt 5 -
Antidiskriminierungsstelle des Bundes
Titel: Diskriminierung in Deutschland 2021 bis 2023, Bericht an den Bundestag
Datum: auf der Seite ausgewiesen Antidiskriminierungsstelle
Verwendet in: Abschnitt 5
