Ein Hörakustiker im weißen Kittel sitzt einem älteren, nachdenklich wirkenden Frau gegenüber. Er hält ein Hörgerät in der Hand und erklärt ihr ruhig etwas. Die Frau fasst sich an ihr Ohr und blickt konzentriert, aber etwas unsicher. Die Szene spielt in einem hellen, wohnlich eingerichteten Raum, der eine ruhige und respektvolle Atmosphäre vermittelt.

Wenn Hören schwerfällt – und Vorurteile noch schwerer wiegen

Ableismus Gesellschaft & Inklusion

Hörverlust, Demenzrisiko und die unsichtbare Barriere namens Ableismus

„Sie ist leider dement, sie versteht kaum noch etwas.“
So lautete die Einschätzung des Pflegepersonals in einem Hamburger Altenheim, als ein Hörakustiker zum Hausbesuch gerufen wurde. Eine ältere Bewohnerin wirkte apathisch, reagierte kaum, war zurückgezogen und sprach selten. Man hatte ihr bereits ein Zimmer auf der Demenzstation zugewiesen.

Doch der Akustiker wollte sich selbst ein Bild machen – und stellte fest: Die Dame hörte fast nichts mehr. Kein Wunder, dass sie auf Fragen nicht antwortete und sich in Gesprächen „verlor“. Nach einer professionellen Hördiagnostik wurde sie mit passenden Hörgeräten versorgt – und etwas Erstaunliches geschah:
Schon nach wenigen Tagen begann die Seniorin wieder zu lächeln. Sie beteiligte sich an Tischgesprächen, reagierte auf Musik, stellte Fragen – und wurde von Tag zu Tag wacher, zugewandter und lebendiger. Von Demenz konnte keine Rede mehr sein.

Ein tragischer Irrtum – verursacht durch einen unbehandelten Hörverlust und eine falsche Annahme: Dass Desinteresse und Schweigen automatisch ein Zeichen von kognitivem Abbau seien.

Hören ist mehr als nur ein Sinn – es ist Verbindung, Orientierung und Teilhabe

Und genau deshalb hat ein unbehandelter Hörverlust weitreichende Folgen: nicht nur für Kommunikation und Alltag, sondern auch für die geistige Gesundheit. Studien zeigen: Menschen mit starkem Hörverlust haben ein bis zu fünffach erhöhtes Risiko, an einer Demenz zu erkranken.

Was dabei oft übersehen wird: Die gesellschaftlichen Vorurteile gegenüber Hörbehinderung – also Ableismus – tragen wesentlich dazu bei, dass viele Betroffene zu lange zögern, sich Hilfe zu holen.

Wenn Vorurteile krank machen

Ableismus beschreibt die Diskriminierung oder Abwertung von Menschen mit Behinderung – sei es durch offene Vorurteile oder durch gesellschaftliche Normen, die körperliche und geistige „Funktionstüchtigkeit“ als Maßstab setzen.

Gerade Menschen mit Hörverlust erleben häufig:

  • Scham, weil Hörgeräte immer noch mit „Alter“ oder „Schwäche“ assoziiert werden

  • Unsicherheit, aus Angst, Gesprächen nicht folgen zu können oder missverstanden zu werden

  • Vorwürfe, „nicht richtig zuzuhören“, obwohl schlicht das Verstehen schwerfällt

Viele verdrängen ihren Hörverlust oder verstecken ihn – manchmal jahrelang. Das führt zu sozialem Rückzug, kognitiver Überlastung – und erhöht das Demenzrisiko deutlich.

Wissenschaftlich belegt – aber gesellschaftlich verdrängt

Bereits 2011 belegte eine Langzeitstudie der Johns Hopkins University, dass unbehandelter Hörverlust einer der stärksten Risikofaktoren für Demenz ist. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) zählt ihn mittlerweile zu den vermeidbaren Ursachen kognitiven Abbaus.

Trotzdem bleibt das Thema tabuisiert. Viele scheuen sich, Hörhilfen zu nutzen – nicht wegen der Technik, sondern wegen der Stigmatisierung. Hier wirkt Ableismus ganz konkret: Er verhindert Prävention und verhindert Teilhabe.

Hörhilfen sind kein Makel – sondern ein Menschenrecht

Ein Hörgerät ist kein Zeichen von Schwäche – sondern von Selbstbestimmung.
Es bedeutet, sich aktiv für Lebensqualität und geistige Gesundheit zu entscheiden. Der Zugang zu moderner Hörversorgung – von Beratung über Technik bis zur gesellschaftlichen Akzeptanz – ist eine Frage der Inklusion. Und wer Inklusion ernst meint, muss auch die unsichtbaren Barrieren des Alltags abbauen.

Fazit: Gegen das Vergessen – für ein hörfreundliches, vorurteilsfreies Miteinander

Hörverlust ist kein individuelles Versagen, sondern eine weit verbreitete Sinnesbehinderung mit weitreichenden Folgen – medizinisch wie gesellschaftlich.
Wer frühzeitig handelt, gewinnt nicht nur Verständlichkeit, sondern auch Lebensfreude, Teilhabe und geistige Gesundheit zurück.

Lasst uns also nicht nur über Technik sprechen, sondern auch über Haltung.
Für eine Gesellschaft, in der niemand seine Hörbehinderung verstecken muss.