Warum denkt die Medizin defizitorientiert?

Ableismus

Wenn in medizinischen Kontexten von „hörgeschädigt“, „taubstumm“ oder „an Taubheit grenzend schwerhörig“ die Rede ist, stößt das vielen Betroffenen sauer auf. Diese Begriffe wirken entmündigend, defizitbezogen und ausgrenzend. Warum also hält die Medizin an dieser Sprache und Sichtweise fest? Und kann das überhaupt gerechtfertigt sein?

Die Medizin denkt in Körperfunktionen

Die medizinische Sichtweise folgt dem sogenannten biomedizinischen Modell: Der menschliche Körper wird als System verstanden, das dann „gesund“ ist, wenn alle seine Funktionen (Sehen, Hören, Gehen usw.) der Norm entsprechen. Eine Abweichung von dieser Norm – etwa ein Hörverlust – wird als Störung oder Defizit betrachtet. Ziel ist dann, diese Abweichung zu diagnostizieren, zu behandeln oder bestenfalls zu beheben.

Aus dieser Perspektive ergibt sich eine klare Logik: Wer nicht (voll) hören kann, gilt als „taubstumm“ oder „hörgeschädigt“. Es geht um Funktionsverlust, den es zu erfassen und zu kompensieren gilt. Die Sprache der Medizin ist also nicht primär ausgrenzend gemeint – sie folgt einem funktionalen Denken.

Aber Sprache schafft Wirklichkeit

Trotzdem bleibt diese Sichtweise problematisch. Denn sie transportiert eine implizite Wertung: Wer nicht „normal“ funktioniert, gilt als beeinträchtigt. Das führt zu Stigmatisierung, auch ungewollt. Viele Menschen, die z. B. in der Gebärdensprachgemeinschaft leben, empfinden ihre Taubheit nicht als Defizit, sondern als Teil ihrer Identität. Sie wollen nicht repariert werden, sondern als vollwertige Mitglieder der Gesellschaft anerkannt werden – mit eigener Sprache, Kultur und Geschichte.

Wer in diesem Kontext „taubstumm“ sagt, reduziert den Menschen auf das, was (aus medizinischer Sicht) fehlt. Das ist nicht nur fachlich falsch, sondern auch verletzend.

Medizin ist wichtig – aber nicht genug

Dass die Medizin defizitorientiert denkt, ist also in ihrem eigenen System logisch und sogar notwendig: Nur so können Diagnosen gestellt, Hilfsmittel verschrieben und Therapien bezahlt werden. Doch diese Sichtweise reicht nicht aus, um dem ganzen Menschen gerecht zu werden.

Was fehlt, ist die soziale und menschenrechtliche Perspektive:

  • Das soziale Modell von Behinderung sieht nicht den Körper als Problem, sondern die Umwelt. Nicht die „taube“ Person ist behindert – sondern die Gesellschaft, die nur hörende Kommunikation zulässt.
  • Die UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) fordert, Menschen mit Behinderungen nicht zu objektivieren oder pathologisieren, sondern ihre gleichberechtigte Teilhabe zu sichern.
  • Deaf Studies und Disability Studies machen deutlich: Es gibt ein eigenes Wissen und eine eigene Kultur, die in medizinischen Kontexten oft unsichtbar bleibt.

Ein inklusiver Blick ist möglich

Die Lösung ist nicht, die Medizin abzuschaffen oder pauschal zu verurteilen. Sondern: Ihre Perspektive zu erweitern. Medizin kann dann Teil einer inklusiven Gesellschaft sein, wenn sie ihre Sprache reflektiert, Betroffene einbezieht und anerkennt, dass Nicht-Hören nicht automatisch ein Leidenszustand ist.

Oder wie es der Aktivist Raul Krauthausen auf den Punkt bringt:

„Nicht der Rollstuhl ist das Problem, sondern die Treppe.“

Und in unserem Fall:

„Es ist nicht das defekte Ohr, das behindert – sondern die Gesellschaft, die nur das Hören kennt.“

Fazit:
Es ist okay, dass Medizin defizitorientiert denkt. Aber es ist nicht okay, wenn das die einzige Perspektive bleibt. Menschen sind mehr als ihre Diagnose. Und wer Inklusion ernst meint, muss auch die Sprache ändern, mit der wir über Behinderung sprechen.